Die brasilianische Künstlerin Graziela Kunsch - Eine „Eltern-Kind-Krippe“ als Kunstprojekt - und was bitte ist die „documenta fifteen“?
Stell Dir vor, Du bist Mama oder Papa von einem Kind im Alter zwischen 0 und 3 Jahren. Und stell Dir vor, wie gut es tun kann, wenn Du mit Deinem Kind einen Ort besuchen kannst, wo es die Möglichkeit hat, sich an einem wohltuenden, freundlichen, sicheren Platz frei zu bewegen und ganz zufrieden zu spielen. Wo Du Dich zurücknehmen darfst und beobachten kannst – weil Du weißt, dass der Rahmen für Dein Kind ein guter ist und es sich so beschäftigen kann, wie es das möchte.
WIE SPÜRT SICH EIN ORT AN, AN DEM DEIN KIND VOLLER ZUFRIEDENHEIT SEIN KANN?
Solche oder ähnliche Gedanken hatte Graziela Kunsch vielleicht, als sie ihr Projekt für die „documenta fifteen“ zu gestalten begann. Möglicherweise fragst Du Dich, was es mit dieser „documenta fifteen“ auf sich hat? Möglicherweise hast Du noch nie von der „documenta“ gehört?
Ich muss gestehen: ich mag Kunst. Aber so genau wusste ich auch nicht was da bei der „documenta“ stattfindet. So begann ich mich ein bisschen einzulesen und gebe Dir das weiter, was ich so zusammenfassen kann: Die „documenta“ wurde 1955 erstmalig von dem Kasseler Maler und Gestalter Arnold Bode organisiert und zeigte im Museum Fridericianum eine umfassende Übersichtsausstellung zur europäischen Kunst des 20.Jahrhunderts. Das findet seither im fünfjährigen Rhythmus statt und hat sich über die Jahre zur weltweit bedeutendsten Ausstellungsreihe für internationale Gegenwartskunst entwickelt. Dieses Jahr präsentieren 14 Künstlerkollektive, Organisationen und Institutionen sowie 54 Künstler*innen an 32 Standorten in Kassel 100 Tage lange ihre Werke.
Aber zurück zu Graziela Kunsch und ihrem Werk. Graziela lebt in Brasilien, in Sao Paolo. Sie ist Künstlerin und Mutter einer 2jährigen Tochter. Und ihr Projekt für die aktuelle „documenta fifteen“ ist die „Eltern-Kind-Krippe" in Anlehnung an die Pädagogik und Haltung Emmi Piklers.
Also ein Kunstprojekt, das gleichzeitig ein Raum, ein Ort ist, der so ansprechend einladend wirkt, als hätte jemand in Deiner Gemeinde erkannt, was junge Familien brauchen.
Das Projekt gilt als ihre Idee, ihr Vorschlag, zu dessen Umsetzung sie Personen von außerhalb des Kunstbetriebes einlädt, nicht nur als Teilnehmende, sondern als Mitwirkende aufzutreten, wodurch ihr Vorschlag dann eine Vielzahl von Sichtweisen einschließt.
So wurde der riesige, lichtdurchflutetet Raum im Fridericianum von Elke Avenarius in unterschiedliche Bereiche gegliedert, quasi umgebaut, so, dass Du das Gefühl hast, Dich in einem überaus einladenden, alltagstauglichen Wohnbereich zu befinden.
Elke ist von ihrem Grundberuf Bauingenieurin, aber eben nun auch schon seit vielen Jahren Mitbegründerin, Mitwirkende und derzeitige Geschäftsleiterin der Kinderkrippe „Kleine Entdecker“ in Kassel. Und mit Sicherheit die beste Raumgestalterin für ein Projekt dieser Art.
Der große Raum wurde von ihr wie eine Krippe konzipiert, also
MIT VERSCHIEDENEN BEREICHEN, UM DIE BEDÜRFNISSE VON KLEINKINDERN GUT ERFÜLLEN ZU KÖNNEN
bzw. mit Möbeln, die für die wachsende Autonomie von Babys entworfen wurden.
Es gibt zwei Spielbereiche für Kinder, wobei einer davon für ganz junge, noch krabbelnde Babys vorgesehen ist, und ein weiterer Bereich – wie eine große Sandkiste - für bereits gehende Kinder gestaltet wurde. Ausgestattet mit Materialien (da kommen wir als Kokomoo wieder ins Spiel 😉), die ohne Vordefinition zum Freien Spiel einladen.
Es gibt einen Essensbereich mit Küche und Sitzmöglichkeiten für Eltern und Kinder, es gibt Wickelplätze und einen Rückzugsbereich mit Matratzen und kuschelige Sofasessel zum Ausruhen, Schlafen und Stillen. Kurz gesagt: Räume, in denen alle Bedürfnisse erfüllt werden können.
Davor befindet sich ein Bereich, der Hintergrundmaterial zu der Arbeit und Haltung Emmi Piklers bietet. Bücher und Schriften zur freien Bewegungsentwicklung laden dort zum Schmökern ein und Du kannst großartige ausdrucksstarke Bilder der ungarischen Fotografin Marian Reismann betrachten, die über mehrere Jahrzehnte lang spielende Babys und ihre Beziehung zu ihren Betreuer*innen im Kinderheim Pikler-Locy in Budapest fotografisch festgehalten hat.
Ein Video zeigt Aufnahmen, mit denen Graziela die freie Bewegungsentwicklung ihrer Tochter Manu dokumentiert hat. Von der Rückenlage bis zum freien Gehen – hinein in eine wunderschöne Strandlandschaft 😉.
In der „Bibliothek des Spieles“ hat Graziela unterschiedliche Institutionen eingeladen, für sie wichtige Spielmaterialien zu präsentieren. Als „Kokomoo“ sind wir sehr stolz darauf, dass hier unsere Materialien Nachbarn von Kostbarkeiten aus dem Pikler-Institut Loczy in Budapest, dem Strandgut Berlin und anderen wertgeschätzten Freunden Grazielas sein dürfen.
So findest Du, Dank der documenta, Dank Graziela (und ihrer Freude an der Idee Emmi Piklers) und Dank all ihren Mitwirkenden ein großartiges Projekt, an dem Erwachsene und Eltern lernen können – durch Bücher, Texte, Bilder und Videos – aber vor allem: durch und von ihren Kindern. Ein Projekt, in dem Kinder frei spielen dürfen und Erwachsene möglicherweise die Kostbarkeit des Beobachtens für sich entdecken können.
UND MÖGLICHERWEISE IST GENAU DIES DER IMPULS, DEN ES BRAUCHT, UM EIN NEUES MITEINANDER-SEIN ZU ERMÖGLICHEN.
Und das wäre dann wohl wieder genau das Thema der diesjährigen „documenta fifteen“. 😊
Falls Du Lust und Zeit hast, um Dich auf den Weg nach Kassel zu machen: Die documenta geht noch bis 25.September 2022. Als Besucher*in der documenta kannst Du tagsüber „nur“ den Raum vor der Krippe besuchen. Dort findest Du den Bereich mit Graziela‘s Video, Texte, Bilder, Bücher und die „Bibliothek des Spiels“. Während der Zeit von 10.00 – 17.00 sind die Krippenräume nur für Erwachsene mit Kindern geöffnet. Ab 17.00 können dann alle Räume auch von anderen Ausstellungsbesucher*innen besichtigt werden. Also falls Du fährst: viel Freude beim Entdecken😊 .
Wie wir Kokomoos unserer Reise zur Documenta Fifteen erlebt haben, kannst Du hier nachlesen. 😊
Hier findest Du das Video mit dem Graziela ihr Projekt beschreibt.
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